Protestantische Historiker sind der Ansicht, durch die Reformation sei das wahre Christentum wiederhergestellt worden. Katholische Gelehrte hingegen sagen, sie habe zu theologischen Irrtümern geführt. Was läßt der Rückspiegel der Religionsgeschichte erkennen? Hat der Protestantismus wirklich eine Reformation gebracht oder lediglich eine Neuerung, durch die eine mangelhafte Anbetungsform durch eine andere mangelhafte ersetzt wurde?
Die Reformatoren betonten die Wichtigkeit der Heiligen Schrift. Sie lehnten die Tradition ab, obwohl Martin Marty, Redakteur der Zeitschrift The Christian Century, schreibt, daß im vergangenen Jahrhundert "immer mehr Protestanten bereit waren, eine Verbindung zwischen der Bibel und der Tradition zu erkennen". Das traf jedoch auf die "Väter" ihres Glaubens nicht zu. In ihren Augen "nahm die Bibel eine besondere Stellung ein, und die Tradition oder die päpstliche Autorität konnte ihr nie gleichkommen".
Diese Haltung förderte das Interesse am Übersetzen, Verbreiten und Studieren der Bibel. Mitte des 15. Jahrhunderts — über ein halbes Jahrhundert ehe die Reformation ins Rollen kam — versah Johannes Gutenberg den aufkommenden Protestantismus mit einem nützlichen Werkzeug. Als Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern stellte er die erste gedruckte Bibel her. Luther sah in dieser Erfindung große Möglichkeiten und sagte: "Die Druckerey ist die summum et postremum donum (vorzüglichste und letzte Gabe), durch welches Gott die Sache des Euangelii (Evangeliums) fort treibet."
Mehr Menschen konnten nun ihre eigene Bibel besitzen — eine Entwicklung, die die katholische Kirche nicht guthieß. 1559 verfügte Papst Paul IV., daß keine Bibel ohne kirchliche Erlaubnis in der Volkssprache gedruckt werden dürfe. Doch die Kirche erteilte eine solche Erlaubnis nicht. Papst Pius IV. erklärte 1564: "Die Erfahrung lehrt, daß, wenn das Lesen der Bibel in der Volkssprache allen ohne Unterschied gestattet wird, daraus . . . mehr Schaden als Nutzen entsteht."
Die Reformation brachte eine neue Art "Christentum" hervor. An die Stelle der Autorität des Papsttums trat die eigene freie Wahl. Die katholische Messe wich der protestantischen Liturgie, und prunkvolle katholische Kathedralen wurden durch gewöhnlich weniger pompöse evangelische Kirchen ersetzt.
Die Geschichte lehrt uns, daß Bewegungen, die ursprünglich religiöser Natur waren, oft einen sozialen oder politischen Nutzen hatten. Das traf auch auf die Reformation zu. Eugene F. Rice jr., Geschichtsprofessor an der Columbia-Universität, erklärt: "Im Mittelalter war die abendländische Kirche eine europäische Einheit. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zerfiel sie in zahlreiche einzelne Landeskirchen . . ., über die weltliche Herrscher große Macht ausübten." Dies führte zum "Höhepunkt des langen Kampfes zwischen weltlicher und geistlicher Autorität im Mittelalter. . . . Die Machtkonzentration verlagerte sich entscheidend und endgültig von der Kirche auf den Staat und vom Priester auf den Laien."
Für den einzelnen bedeutete dies größere religiöse und bürgerliche Freiheit. Im Unterschied zum Katholizismus hatte der Protestantismus kein zentrales Organ zur Überwachung der Lehre oder der Bräuche, so daß ein breites Spektrum religiöser Anschauungen ermöglicht wurde. Dadurch wiederum entstand allmählich eine religiöse Toleranz und liberale Haltung, die zur Zeit der Reformation noch undenkbar gewesen wäre.
Die größere Freiheit setzte ungenutzte Energien frei. Sie war nach Ansicht einiger der Antrieb, der notwendig war, um die sozialen, politischen und technologischen Entwicklungen in Gang zu setzen, die uns in die Moderne versetzt haben. Die protestantische Arbeitsmoral wurde "auf die Regierung und auf das tägliche Leben übertragen", schrieb der Autor Theodore White. Er bezeichnete sie als "die Überzeugung, daß der Mensch direkt vor Gott für sein Gewissen und seine Handlungen verantwortlich ist, ohne die Vermittlung oder Fürsprache von Priestern. . . . Wenn ein Mann hart arbeitete, seinen Weg ginge, weder nachlässig noch träge wäre und für Frau und Kinder sorgte, würde das Schicksal oder Gott seine Anstrengungen belohnen."
Sollten uns diese anscheinend positiven Gesichtspunkte des Protestantismus für seine Mängel blind machen? Die Reformation war auch "Anlaß für schlimme Übel", heißt es in der Encyclopædia of Religion and Ethics. "Das Zeitalter der Jesuiten und der Inquisition wurde zu einem Ende gebracht . . ., nur um von etwas noch Niedrigerem gefolgt zu werden. Wenn es im Mittelalter viel ehrliche Unwissenheit gab, so gibt es jetzt viel organisierte Falschheit."
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