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Dienstag, 11. Juni 2013
CHRISTENHEIT UND BLUTSCHULD – 1. Teil

Die Jonestown-Tragödie (Guyana) im Jahr 1979 bei der über 900 Mitglieder der Sekte, die unter dem Namen "Volkstempel" bekannt war, Selbstmord begingen — zum größten Teil freiwillig —, indem sie Limonade mit Zyankali tranken, fragten sich die Leute entsetzt: "Was für eine Religion ist das, die das Leben ihrer eigenen Mitglieder opfert?"

Unschuldiges Blut wird jedoch schon seit fast 6 000 Jahren im Namen der Religion vergossen. Im 20. Jahrhundert ist indessen mehr Blut auf die verschiedenste Weise vergossen worden als zu irgendeiner Zeit der Geschichte. Das Folgende ist nur ein kleiner Bruchteil der Beweise.

Seit 1914 sind in zwei Weltkriegen und über hundert kleineren bewaffneten Konflikten Ströme von Blut geflossen. Im neunzehnten Jahrhundert sagte der französische Erzähler Guy de Maupassant, daß der Patriotismus "die Keimzelle der Kriege" und "ebenfalls eine Religion" sei. "Der Nationalismus, Bruder des Patriotismus, ist in unserer modernen Welt zu einer tonangebenden Religion geworden; er füllt die Leere, die durch den Verfall der überkommenen religiösen Werte entstanden ist", heißt es in dem Werk The Encyclopedia of Religion. Ein geistiges Vakuum ist entstanden, weil die Christenheit es versäumt hat, für die wahre Religion einzustehen, und dieses Vakuum hat der Nationalismus ausgefüllt.

Nirgendwo wurde dies besser illustriert als im nationalsozialistischen Deutschland, das beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu 94,4 Prozent "christlich" war. Deutschland — der Geburtsort des Protestantismus und das Land, dessen Katholiken, wie Papst Pius X. im Jahre 1914 sagte, "die besten . . . der Welt" waren — hätte das "christlichste" Land sein müssen, das es gab.

Es ist bezeichnend, daß der Katholik Adolf Hitler anfänglich unter den Protestanten mehr Anhänger fand als unter den Katholiken. Die NSDAP erhielt bei den Wahlen im Jahre 1930 in mehrheitlich evangelischen Wahlkreisen 20 Prozent der Stimmen, während sie in überwiegend katholischen Wahlkreisen nur 14 Prozent erhielt. Und zum erstenmal erzielte diese Partei bei den Landtagswahlen vom Jahre 1932 in Oldenburg — damals ein Land, das zu 75 Prozent protestantisch war — die absolute Mehrheit.

Offenbar war die "Leere, die durch den Verfall der überkommenen religiösen Werte entstanden ist", beim Protestantismus größer als beim Katholizismus. Das ist auch verständlich. Die liberale Theologie und die Bibelkritik stammen zur Hauptsache von deutschsprachigen protestantischen Theologen.

Bezeichnend ist auch, was schließlich die katholische Kirche veranlaßte, Hitler zu unterstützen. Der deutsche Kirchenhistoriker Klaus Scholder schreibt, daß "der deutsche Katholizismus . . . traditionellerweise besonders eng mit Rom verbunden" war. Der Vatikan, der im Nationalsozialismus ein Bollwerk gegen den Kommunismus sah, war nicht abgeneigt, seinen Einfluß geltend zu machen, um Hitler zu stärken. "Die wesentlichen Entscheidungen verlagerten sich mehr und mehr in die Kurie, und schließlich wurde über Stellung und Zukunft des Katholizismus im Dritten Reich tatsächlich fast allein in Rom entschieden" erklärt Scholder.

Die Rolle, die die Christenheit in den beiden Weltkriegen spielte, führte zu einem großen Prestigeverlust. In dem Werk Concise Dictionary of the Christian World Mission wird gesagt: "Nichtchristen hatten . . . die offenkundige Tatsache vor Augen, daß Nationen, die tausend Jahre lang über das Christentum belehrt wurden, ihre Leidenschaft nicht beherrschen konnten und um ehrgeiziger Ziele willen, die keineswegs bewundernswert waren, die ganze Welt in Brand setzten."

Natürlich sind Religionskriege nichts Neues. Aber früher haben sich Völker mit unterschiedlichen Religionen gegenseitig befehdet; im 20. Jahrhundert jedoch kommt es immer häufiger vor, daß sich Völker bekriegen, die der gleichen Religion angehören. Der "Gott" Nationalismus vermochte die religiösen Götter zu seinen Zwecken zu gebrauchen. Im Zweiten Weltkrieg töteten die britischen und die amerikanischen Katholiken und Protestanten Katholiken und Protestanten in Italien und Deutschland, und die japanischen Buddhisten handelten gegenüber ihren Glaubensbrüdern in Südostasien ebenso.

Da aber an den Rocksäumen der Christenheit so viel Blut klebt, ist sie nicht berechtigt, selbstgerecht mit dem Finger auf andere zu zeigen. "Christen" und Nichtchristen befürworten, unterstützen und wählen vielfach sogar unvollkommene menschliche Regierungen, deshalb müssen sie die Verantwortung für das Blut übernehmen, das diese Regierungen vergießen.

Doch was ist das für eine Religion, die den Staat höher achtet als Gott und zuläßt, daß ihre Gläubigen auf dem Altar des Kriegsgottes als politische Opfer dargebracht werden?


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