Donnerstag, 6. Juni 2013
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RELIGION, WISSENSCHAFT, AUFKLÄRUNG UND INDUSTRIALISIERUNG – 2. Teil

Die Aufklärer überzeugten die Menschen davon, daß die Religion für viele soziale Übel verantwortlich war. Die Auffassung, daß "die Gesellschaft nach den Gesetzen Gottes und der Natur strukturiert sein soll", schreibt das Werk The Encyclopedia of Religion, "wurde durch die Auffassung ersetzt, die Gesellschaft sei das Ergebnis der "Tüchtigkeit" oder "Planung" des Menschen (oder könnte es sein). So entstand ein weltlicher, sozialer Humanismus, der die meisten philosophischen und soziologischen Theorien der modernen Welt hervorbrachte."

Zu diesen Theorien gehört die von dem einflußreichen Aufklärer, dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau, vertretene "rationale Nationalreligion". Sie hatte kein göttliches Wesen, das angebetet werden sollte, zum Inhalt, sondern die Gesellschaft und die Beteiligung des Menschen an ihren Belangen. Der französische Philosoph Saint-Simon (Claude Henri de Rouvroy) vertrat ein "neues Christentum", während sein Schüler, Auguste Comte, von einer "Menschheitsreligion" sprach.

Im späten 19. Jahrhundert entwickelte sich unter den Protestanten Amerikas eine Bewegung, die "Social Gospel" (soziales Evangelium) genannt wurde. Sie war eng mit dem religiösen Sozialismus in Europa verwandt. Man vertrat die Auffassung, es sei die Hauptaufgabe eines Christen, sich mit sozialen Fragen zu befassen. Bis heute gehören zahlreiche Protestanten zu ihren eifrigen Unterstützern. Die katholische Version davon sind die französischen Arbeiterpriester und die Geistlichen Lateinamerikas, die die Befreiungstheologie lehren.

Wie ein Bericht der Zeitschrift Time aus dem Jahr 1982 zeigt, spiegeln die Missionare der Christenheit diesen Trend wider: "Die Protestanten befassen sich jetzt ebenfalls mehr mit den grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Menschen . . . Für eine wachsende Zahl katholischer Missionare bedeutet die Identifizierung mit der Sache der Armen Eintreten für radikale Veränderungen in den politischen und wirtschaftlichen Systemen — selbst wenn diese Veränderungen von revolutionären marxistischen Bewegungen ausgehen. . . . Es gibt sogar Missionare, die glauben, die Bekehrung Andersgläubiger habe im Grunde wenig mit ihrer wahren Aufgabe zu tun." Diese Missionare stimmen offenbar mit dem französischen Soziologen Émile Durkheim überein, der einmal sagte: "Was eigentlich religiös verehrt werden sollte, ist die Gesellschaft und nicht Gott."

Die Christenheit verdrängte Gott offensichtlich sachte, ganz sachte. Außerdem waren auch noch andere Kräfte am Werk.

Die Kirchen hatten keine Lösungen für die Probleme, die durch die industriellen Revolution hervorgerufen wurden. Pseudoreligionen jedoch, das Erzeugnis menschlicher Philosophien, behaupteten, solche Lösungen zu haben, und sie bemühten sich, das entstandene Vakuum eiligst auszufüllen.

Für gewisse Leute bestand das Lebensziel darin, reich zu werden und materielle Güter aufzuhäufen — eine ichbezogene Tendenz, die von der industriellen Revolution genährt wurde. Der Materialismus wurde zu einer Religion. Der allmächtige Gott mußte dem "allmächtigen Geld" weichen. In einer Komödie von George Bernard Shaw wird das angedeutet, indem eine der Personen sagt: "Ich bin ein Millionär, das ist meine Religion."

Andere Leute wandten sich politischen Bewegungen zu. Friedrich Engels, sozialistischer Philosoph und Mitarbeiter von Karl Marx, prophezeite, daß der Sozialismus schließlich die Religion ersetzen werde; er werde selbst die Attribute einer Religion annehmen. Wie der emeritierte Professor Robert Nisbet sagte, war es ein markantes Merkmal des in Europa um sich greifenden Sozialismus, daß sich "die Sozialisten vom Judentum oder vom Christentum weg- und einem Ersatz zuwandten".

Da die Christenheit mit der Zeit des Umbruchs nicht fertig wurde, konnten sich gemäß der World Christian Encyclopedia Kräfte entwickeln wie "Säkularismus, wissenschaftlicher Materialismus, atheistischer Kommunismus, Nationalismus, Nationalsozialismus, Faschismus, Maoismus, liberaler Humanismus und zahlreiche erdachte oder erfundene Pseudoreligionen".

Wenn man an die Früchte denkt, die diese philosophischen Pseudoreligionen hervorgebracht haben, erscheinen einem die Worte des englischen Dichters John Milton höchst passend: "Lauter eitele Weisheit und falsche Philosophie."

Millionen Menschen, die sich in der ungünstigen Situation zwischen untauglichen kirchlichen Systemen einerseits und trügerischen Pseudoreligionen andererseits befanden, hielten Ausschau nach etwas Besserem. Einige dachten, sie hätten es in der Form des Deismus, auch als "natürliche Religion" bekannt, gefunden. Der Deismus erlangte besonders in England während des 17. Jahrhunderts Bedeutung. Er wurde als ein Kompromiß beschrieben, der die Wissenschaft akzeptiert, ohne Gott zu verlassen. Die Deisten waren daher "Freidenker", die einen goldenen Mittelweg gingen.

Wood schreibt: "Deismus besteht hauptsächlich in dem Glauben an einen einzigen Gott und einer religiösen Praxis, die nur auf der "natürlichen" Vernunft basiert und nicht auf einer übernatürlichen Offenbarung." Da der Deismus eine "übernatürliche Offenbarung" nicht gelten ließ, gingen einige Deisten so weit, daß sie die Bibel nahezu ganz ablehnten. Heute wird der Ausdruck Deismus kaum noch gebraucht, obschon sich "Christen", die die kirchliche oder die biblische Autorität zugunsten persönlicher Meinungen oder anderer Lebensphilosophien ablehnen, in Wirklichkeit an seine Grundsätze halten.

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